Im Spannungsfeld zwischen Verständnis und Authentizität

Ein Gespräch mit Denys Darahan, ausgezeichnet mit dem Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm 2019, für die Montage von Oray. Regie: Mehmet Akif Büyükatalay

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Oray ist ein Abschlussfilm des Regisseurs Mehmet Akif Büyükatalay an der Kunsthochschule für Medien in Köln (KHM). Wie bist Du zu dem Projekt gestoßen, und in welchem Zustand war der Film damals?    

Denys Darahan: An der KHM gibt es keinen Schnitt-Studiengang, also schneiden die Regisseure ihre Filme oft selbst. Als ich angefragt wurde, hatte Mehmet bereits zwei, drei Monate lang selbst geschnitten, und es gab einen dreieinhalb-stündigen Rohschnitt ohne Untertitel. Den habe ich mir angeschaut und von der Geschichte erst mal wenig verstanden. Ich mochte vor allem das Schauspiel, und wie der Film inszeniert ist. Es gefiel mir, dass Laiendarsteller dabei sind, und ich beim ersten Gucken nicht genau sagen konnte was improvisiert war und was nicht. Einige Stellen, die ich für Impro hielt, waren tatsächlich geschrieben. Das fand ich schön, dass der Film mich da so gekriegt hat. Dass es sich echter anfühlte, als man es normalerweise schreiben würde. 
Ich musste Oray trotzdem zunächst absagen, weil ich dringend Geld brauchte – und ich gerade ein Angebot für einen Fernsehfilm hatte. Da Oray ein Abschlussfilm ist, gab es leider nicht viel Budget für einen Editor. Nach dem Fernsehfilm haben sie mich nochmal angefragt. Inzwischen war der Rohschnitt schon etwas weiter, und untertitelt. Ich habe dann zugesagt, weil mich diese Art von Film wirklich reizt.  

Du hast ja schon davor Filme montiert, die mit Laiendarstellern und/oder Improvisation arbeiten.

Denys Darahan: Ja, ich habe während meinem Studium an der Filmakademie Ludwigsburg Zwei Mütter von Anne Zohra Berrached geschnitten; damals war ich im zweiten Studienjahr, und Anne im dritten. Außer den beiden Hauptrollen sind alles Laien, die sich selber verkörpern. Anne nutzt diese Methode, um eine authentischere Wirkung zu erzielen. Ein paar Jahre später haben wir 24 Wochen zusammen gemacht. Da gab es zwar ein Drehbuch, aber auch einige Impro-Anteile, vor allem bei den Ärzten. Beide Filme kannte Mehmet, und er mochte vor allem Zwei Mütter sehr.
Ich versuche solches Material auch immer so zu schneiden, dass man nicht merkt, wenn etwas improvisiert wurde. Ich möchte es ungern ausstellen. Es soll sich am Ende einfach wie gut geschrieben und gut gespielt anfühlen.

Oray bringt uns auf eine fast dokumentarische Weise seine Figuren nahe; zeigt auf intime und differenzierte Weise das Innenleben einer islamischen Glaubensgemeinschaft in Köln, ein gesellschaftliches Umfeld welches die meisten Zuschauer nicht persönlich kennen. Was hat das für Eure Arbeit während der Montage bedeutet? 

Denys Darahan: Tatsächlich war die Problematik, die uns bei dem Film am meisten beschäftigt hat: Was versteht man und wie viel müssen wir erklären? Weil es ja wirklich ein sehr innerer Blick ist. Und der Regisseur kommt quasi von innen; der Film ist zwar nicht autobiografisch, aber Mehmet war in einer Gemeinde tätig, war Prediger in einer Jugendgruppe, er kennt das kulturelle Umfeld genau. Also war es für den Film nützlich, dass ich eine Außenperspektive mitbrachte. Ich habe zwar auch einen Migrationshintergrund – ich bin im Alter von zehn Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen – aber das Umfeld in Oray war mir fremd und somit hatte ich beim Gucken einige typische Verständnisfragen.
Wir wollten trotzdem vermeiden, dass sich unsere Protagonisten Dinge gegenseitig erklären, die für sie eigentlich selbstverständlich sind. Denn je mehr man erklärt, desto fiktionaler kann sich der Film anfühlen. Man verliert Authentizität. Also haben wir alles überdeutlich Erklärende reduziert. Es gab z.B. ganz am Anfang eine Szene mit Oray und seinem Bewährungshelfer. Da ging es sehr direkt um: »Du bist erst vor kurzem aus dem Knast entlassen worden«. Diese Szene haben wir dann später weggelassen. Da die richtige Balance zu finden, hat uns bis zum Schluss beschäftigt: Haben wir zu wenig erklärt, oder zu viel? Irgendwann haben wir Witze gemacht, dass wir den Zuschauern einfach ein kleines Heft in die Hand drücken werden, wo alles drin steht, also was »Harām« bedeutet, usw.

Hast Du neben elliptischen Auslassungen und Verdichtungen auch strukturell einiges geändert? 

Denys Darahan: Es war mir wichtig, dass Orays Frau Burcu mehr Raum und Präsenz bekommt, also haben wir ihren Besuch in Köln früher platziert als vorgesehen. Dadurch bekommt das heimliche Zusammensein noch mehr Dramatik, denn nun wird Oray erst einen Tag nach ihrer Ankunft mit der strengeren Auslegung der Scheidungsformel »Talāq« konfrontiert, und liegt mit diesem bedrückendem Wissen nachts bei ihr auf dem Sofa. Außerdem haben wir Burcus Szenen so aufgeteilt, dass es sich eher so anfühlt, als hätte sie eine Woche bei Oray übernachtet, nicht nur eine Nacht. Auch nach ihrer Abreise haben wir versucht, sie durch Sprachnachrichten weiterhin präsent zu halten.Andererseits haben wir vieles reduziert, was in sich gut war, aber uns zu lange vom Haupterzählstrang und den Hauptfiguren entfernte. Es gab vor allem noch mehr halb-dokumentarisches Material von der Gemeinde, z.B. eine Beobachtung wie die Jungs im Gebetsraum Playstation spielen. Man kam ihnen dabei so schön nahe, aber eines Tages sagte Mehmet, er hätte gerade fast die gleiche Szene in einem Fernsehfilm über Radikalisierung gesehen und wir wollten nicht die selben Bilder benutzen wie solche Filme – also flog die Szene raus. Genauso haben wir auch mehrere, etwas zu klischeehaft geratene Schleifen mit Ebu Bekir entfernt, dem Jungen den Oray in die Gemeinde bringt.
Ich hab längere Zeit mit dem Anfang gehadert, weil man so wenig wusste über Oray, und erst nach und nach kleinere Informationsbrocken über ihn erhielt. So hatte ich das Gefühl, man brauchte eine Weile, bis man im Film ankam. Also erst wenn er nach Köln gezogen war, kam man so allmählich an ihn ran. Das fand ich irgendwie schade, denn dadurch verpasste man beinah den Anfang, weil man von der Frage abgelenkt war: Was ist das überhaupt für ein Film? Eines Tages guckte ich mir die lange Rede in der Mitte des Films an, die Oray in der Gemeinde hält. Und erinnerte mich an einen Dozenten in Ludwigsburg, der meinte, wenn man nicht gut in einen Dokumentarfilm hineinkommt, sollte man mal versuchen, die stärkste Szene an den Anfang zu setzen. Die Szene, bei der man im Kern spürt, worum es in diesem Film geht. Meistens möchte man sich so eine Szene für später aufsparen, aber es kann eine Lösung sein, mit ihr anzufangen.
Dann habe ich in einem Take gesehen, dass es auch eine Handy-Kamera auf einem Stativ gab – hab sofort Mehmet angerufen und gefragt: »Gibt es diese Aufnahmen?« Und er meinte: »Ja, müsste es irgendwo geben«. Man hatte nicht vorgehabt, diese Aufnahmen in der Szene zu verwenden, sondern nur für das Internet-Video der Rede, welches später hochgeladen wird. Aber zum Glück war die Handy-Kamera bei jedem Take mitgelaufen. So konnte ich dieselbe Phase der Rede als statische, ungeschnittene Einstellung an den Anfang des Films setzen, die wir ab der 40. Minute dann mit Impressionen aus dem Raum wiederholen. Dadurch wirkt der Anfang komplett anders. Nach dieser Einleitung kann man den Film besser schauen, selbst wenn man nicht alles versteht, weil man schon die Grundlage hat, das Herz.

Die Musikgestaltung ordnet sich auch dem halb-dokumentarischem Realismus des Films unter. Stand das von Anfang an so fest?

Denys Darahan: Ich mag es eigentlich sehr, dass der Film so puristisch ist, so schlicht. Aber lange Zeit fehlte mir doch etwas, vor allem bei der Anfangssequenz, als es noch nicht das Video davor gab, und der Film damit losging, dass Oray betet und sich danach zu Burcu ins Bett legt. Deshalb habe ich es mit einer Musik probiert, die eigentlich auch schön war, aber halt eine andere Stimmung erzeugte; es wirkte wie ein ganz anderer Film. Irgendwann meinte Mehmet, er will grundsätzlich keine Filmmusik, sondern nur Musik aus Quellen innerhalb der Szene. Also habe ich mir dann alle Stellen rausgesucht, wo Musik laufen könnte, und dort überall etwas hingelegt: Auf der Hochzeit, oder wenn die Jungs danach im Auto fahren, oder wenn im Fernsehen irgendwas läuft. So hat der Film doch einiges an Musik erhalten.
Es bleibt eine einzige Stelle übrig, wo ich dieses diegetische Prinzip verletzt habe: Bei der Gesangs-Montage, die mit einem Tee-Einschenken beginnt, und sich über Bilder vom Markt und dem Streichen der Moschee fortsetzt, bis der Gesang wieder ins On kommt. Da war sich Mehmet auch lange Zeit unsicher, ob er das gut findet – weil es gegen das Stilprinzip verstößt und ihm als eine zu große Manipulation erschien. Deshalb hat er bei der ersten Testverführung gezielt gefragt: »Wie findet ihr diese Montage?«. Und als alle sie gut fanden, meinte er: »Ok, kann bleiben.«

Du hast in Deiner Dankesrede bei der Preisverleihung erwähnt, dass ihr während der Arbeit an Oray auch die Sorge hattet, rechte Kreise könnten die kritischen Ansätze in der Geschichte für ihre Anti-Islam-Propaganda missbrauchen – was zum Glück an Eurem sehr ehrlichen und realistischen Umgang mit den Figuren und dem Thema scheitern würde. Aber allein der Gedanke zeigt die erstaunliche Bandbreite der möglichen Reaktionen auf den Film. Einige Zuschauer bedauern ja das Ende, und kritisieren, dass Oray sich für die Gemeinde und gegen seine Frau Burcu entscheidet – obwohl der Film dazu eigentlich keine Wertung abgibt.

Denys Darahan: Ja, jeder trägt in diesen Film seine ganze gesellschaftliche Vorprägung mit hinein. Und man bringt ein Wissen mit, welches meistens in eine bestimmte Richtung präjudiziert ist, etwa durch die Medien. Das war bei mir auch so. Ich hab direkt vor dem Schnittbeginn zufällig den Roman »Unterwerfung« von Michel Houellebecq gelesen, ein Buch mit einer ganz anderen, krasseren Sicht auf die Islam-Thematik. Und daher habe ich zunächst einige Szenen in Oray falsch »gelesen«, Witze falsch verstanden, usw.
Wir hatten den fertigen Film auch an der Filmhochschule in Babelsberg gezeigt, wo mir hinterher jemand sagte: »Der Film ist sehr aufgeladen.« Aber eigentlich haben wir ihn nicht aufgeladen. Sondern jeder Zuschauer bringt seine eigenen Erwartungen mit, und denkt deswegen an bestimmten Stellen: »Jetzt passiert etwas drastisches!« Es gibt natürlich solche Stellen, wo wir diese Erwartungen bewusst etwas anreizen wollten, um sie dann zu enttäuschen. Es gibt z.B. die Paintball-Szene, wo man in der Totale Schüsse hört, und einige Leute denken dann: »Jetzt ist er in den Krieg gezogen, jetzt ist er radikal geworden.« Wir haben also mehrfach die Gelegenheit genutzt, den vorhandenen gesellschaftlichen Zerrbildern etwas entgegen zu stellen. 
Und was das Ende angeht, empfinden wir das auch als offener, als es teilweise interpretiert wird: Es ist für uns nicht eine eindeutige Entscheidung für den Glauben und gegen die Liebe. Und wir wollen auch auf keinen Fall sagen, dass es für Oray die richtige Entscheidung ist. Wir verlassen ihn und seine Geschichte in einem bestimmten Moment. Es gibt da aus meiner Sicht kein Schwarz/Weiß.

Interview: Dietmar Kraus