DIE RICHTIGE ZEIT

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Ein Gespräch mit Filmeditorin Heidi Handorf, Ehrenpreisträgerin bei Filmplus 2019

Das Filmplus-Festival zeigt zur Eröffnung deinen Film “Stammheim”, der 1986 den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Das Drehbuch stammt von dem Journalisten Stefan Aust und basiert auf den wortwörtlich übernommenen Gerichtsprotokollen aus dem Stammheim-Prozess. Aust hatte nur wenige Wochen vorher seinen Bestseller “Der Baader-Meinhof-Komplex” veröffentlicht, der die Geschichte der RAF aufarbeitet und das Buch wurde damals nicht nur in der linken Szene kontrovers diskutiert. Gab es eine aufgeheizte Stimmung während der Premiere?

Heidi Handorf: Und ob! Ich war sehr irritiert, als ich auf das Kampnagel-Gelände in Hamburg kam. Es herrschte große Unruhe. Es gab viele Störer aus dem Umfeld der Hafenstraße, die keine Karten für die Vorführung bekommen hatten und gegen die Türen drückten. Im Kino hörte ich, dass die Kopie des Films geklaut worden war und man gerade aus einem anderen Kino eine neue Kopie beschafft hatte. Die Akte mussten erst in der Vorführkabine, die auf einem hohen Podest stand, von mir per Hand aufgerollt werden. Ich war so nervös, dass ich manchmal gar nicht wusste, in welche Richtung ich den Film rollen sollte. Im Publikum waren viele bekannte Premierengäste wie Klaus Bölling und Günter Grass, der sofort aufsprang und weglief, als der erste Böller krachte. Als der Film dann endlich starten sollte, bemerkten wir, dass jemand die Tonkabel durchschnitten hatte und die Vorführung wurde abgesagt. Es war einfach schrecklich! Am nächsten Tag sind wir im Zug nach München zurückgefahren und alle Zeitungen schrieben über den Vorfall dicke Schlagzeilen.

Regisseur Reinhard Hauff erzählte auch von Stinkbombenanschlägen und Drohungen gegen Kinos, die “Stammheim” zum Kinostart zeigen wollten. Die Entstehung des Films und deine Arbeit im Schneideraum waren hoffentlich angenehmer?

Heidi Handorf: Reinhard hatte die Schauspieler besonders temporeich inszeniert. Sie sollten doppelt so schnell sprechen und spielen wie gewöhnlich, in einer Weise, wie das in einer Gerichtsszene bei amerikanischen Filmen ganz selbstverständlich war. Er wollte weg von diesen getragenen, “deutschen” Inszenierungen. Ich habe beim Schnitt Reinhards Tempo der Inszenierung übernommen. Man brauchte aber auch dringend Tempowechsel, die sich wohltuend auf den ganzen Film auswirken.
Einen Film über den Stammheim-Prozess zu machen, war für staatliche Filmförderung, Sender und Produzenten ein Tabu. “Stammheim” wäre ohne Jürgen Flimm, den damaligen Intendanten des Thalia-Theaters in Hamburg, nicht möglich gewesen. Als Co-Produzent beteiligte er sich mit seinem Ensemble an dem Projekt. Moves“ war mit drei Millionen Zuschauern in Deutschland sehr erfolgreich und es war bereits deine vierte Zusammenarbeit mit dem Schweizer Regisseur Carl Schenkel, der später in Los Angeles lebte. Wie habt ihr Euch kennengelernt?
Zu seinem Spielfilmdebüt „Kalt wie Eis“ (1981) war ich über eine Empfehlung von Lisa-Film gekommen. Carl löste seine Szenen, vor allem Action, durch sehr viele Einstellungen auf. Dabei fällt mir eine Szene ein – so genau kann ich mich nicht mehr an den Ablauf erinnern – in der der Protagonist eine Treppe herunterstürzt. Carl hat dafür eine Hand am Geländer, einen Fuß auf der Treppe und noch ein paar dieser flashartigen Shots gedreht, damit ich mir für den Schnitt die beste Einstellung aussuchen kann. Ich habe alle verwendet und er war völlig erstaunt, dass das funktioniert. Vielleicht war das der Auslöser, warum er auch bei seinen folgenden Filmen mit mir arbeiten wollte.

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Das Set des Gerichtssaals ähnelt auch sehr bewusst einer Theater-Bühne, was im Kontext des Films sicher auch ein politischer Kommentar zum Stammheim-Prozess war. Bist du damals auch bei den Dreharbeiten dabei gewesen?

Heidi Handorf: Die Gerichtsszenen wurden in einer großen, fensterlosen Lagerhalle gedreht und die konzentrierte Atmosphäre war sehr beeindruckend. Frank Brühne war der Kameramann, ich kannte seine Arbeit und schätzte ihn sehr. Es wurde mit zwei Kameras gedreht und es entstand unglaublich viel Material. Wenige Male war ich am Set und habe gesehen, wie er mit einer unglaublichen Ruhe gearbeitet hat.Reinhards Arbeit mit den Schauspielern am Set war sehr intensiv und unglaublich präzise, besonders Ulrich Pleitgen als Richter hat stark gespielt. Und dann dieser junge Ulrich Tukur! Ich hatte ihn in dem Stück “Ghetto” am Schauspielhaus in der Inszenierung von Peter Zadek gesehen. Und er war wirklich umwerfend! Jetzt hatte ich ihn jeden Tag auf dem Bildschirm. Super!

Wie unterscheidet sich denn die Arbeit im Schneideraum, wenn man exzellente Schauspiel-Performances wie hier montiert und solche, die nicht wirklich gut sind?

Heidi Handorf: Gute Schauspieler wirken auf mich absolut beflügelnd, dann läuft die Arbeit im Schneideraum viel besser. Ich habe mich später im digitalen Bildschnitt, als es nicht mehr üblich war, dass die Regisseure in den Schneideraum zum Ausmustern kamen, sehr intensiv damit beschäftigt, die besten Takes zu finden. Wie oft habe ich da auch Sätze ausgetauscht und immer wieder alles miteinander verglichen. Manchmal habe ich gedacht, wenn die Schauspieler das wüssten, welche zusätzliche Arbeit ich mir mache, dann müsste jeden Tag eine Flasche Champagner im Schneideraum ankommen.
Ich erinnere mich an eine Schauspielerin, die die Angewohnheit hatte, vor jedem Satz tief Luft zu holen. Man wusste immer genau, wann ihr nächster Satz kommen wird. Das war sehr unspannend. Ich habe alle diese Anatmer aus dem Perfo rausgeschnitten und schon wirkte ihr Spiel viel besser.
Im Grunde genommen habe ich Schauspieler immer bewundert. Allein schon wegen der Mengen an Text, die man lernen muss. Als 12-Jährige hatte ich meiner jüngeren Schwester verraten, dass ich gerne Schauspielerin werden wollte. Aber die sagte nur: “Was du? Du bist doch so hässlich!” Und aus war der Traum. Zum Glück habe ich ja später den richtigen Beruf für mich gefunden.

Du hast viele Filme und Projekte mit politischem Inhalt montiert, neben “Stammheim”, “Blauäugig”, “Heimat” oder dem TV-Zweiteiler “Im Schatten der Macht” auch den österreichischen Kinofilm “38 - Auch das war Wien”, der sogar für einen Oscar nominiert war. Hast du dir bewusst Drehbücher ausgesucht, die eine zentrale politische Ebene haben?

Heidi Handorf: Mein Interesse an politischen Themen und Filmen hat sich durch meine Ausbildung zur Cutter-Assistentin bei der Wochenschau in Hamburg entwickelt, wo ich die Vertonung, das Anlegen von Musik und Negativschnitt gelernt habe, sogar die Kommentare der Sprecher haben wir aufgenommen. Jede Woche lieferten die Kamerateams neues Material aus Bonn an. Und im Dezember 1970 war es Willy Brandts beeindruckender Kniefall in Warschau. Es war einfach eine sehr politische und spannende Zeit, die mich geprägt hat. Und ich habe die Arbeit bei der Wochenschau geschätzt. Später als Editorin habe ich immer sofort zugesagt, wenn es ein Angebot mit einem politischen Thema gab. Leider hat es nie viele solcher Filme gegeben, im Gegenteil.

Hast du in deiner Ausbildungszeit bei der Wochenschau auch schon ein Talent in dir für die Filmmontage vermutet?

Heidi Handorf: Ich war mir von Anfang an sicher, dass ich schneiden kann und hatte immer ein gutes Gefühl für Tempo und Rhythmus. Da ich auch immer viel gelesen habe, Bücher verschlungen habe, meinte ich beim Schneiden etwas von Dramaturgie zu verstehen. Bei “Tomasu Blu” haben wir den Film total umgestellt, ich glaube nur Anfang und Ende blieben wie im Drehbuch. Und auch die Autoren waren damit zufrieden. Bei “38 - Auch das war Wien” ging der fertige Film zunächst nicht durch die Abnahme bei der österreichischen Filmförderung. Der Produzent rief mich an und sagte, dass der Regisseur nicht zu Änderungen nach Wien kommen würde, sondern Urlaub an der Côte d’Azur machte. Ob mir etwas einfiele? Ich habe dann den ganzen ursprünglichen Anfang rausgeschnitten, der eine für mich schon beim Schneiden überflüssige Szene war, von der sich der Regisseur damals aber nicht trennen wollte. 1987 war der Film als erster österreichischer Film für einen Oscar nominiert. Der Produzent freute sich und schenkte mir zum Dank eine Dose Kaviar.tl_files/filmplus/2019/Interviews/Heimat-Eine-deutsche-Chronik © Edgar Reitz Filmstiftung.jpg

Hast du häufig für deine filmerzählerischen Entscheidungen im Schneideraum kämpfen müssen?

Heidi Handorf: Es gab wirklich nur in ganz seltenen Fällen Konflikte mit der Regie. Fast nie. Ich habe meine Sichtweise immer gut vertreten können und meine Ideen vorgestellt, aber: “wenn nicht, dann nicht”. Es war letztendlich der Film der Regisseurin oder des Regisseurs. Ich habe nicht versucht zu dealen: Machen wir diesen Schnitt, wie du denkst, dann machen wir dafür aber den anderen, wie ich es denke, nein. Ich habe aber im Laufe der Jahre gelernt, subtilere Methoden anzuwenden und habe mit leichtem Kopfschütteln auf bestimmte Änderungen reagiert, um meinen Unmut auszudrücken. Das hat erstaunlicherweise manchmal funktioniert.

Deine Arbeit an der Serie “Heimat” von Edgar Reitz war wahrscheinlich der längste Auftrag deiner beruflichen Laufbahn. Wie war deine Erfahrung, mehrere Jahre an einem Projekt dieser Größenordnung zu arbeiten? Die Handlung der Serie erstreckt sich über Jahrzehnte, die Zuschauer sehen Kinder zu erwachsenen Menschen reifen...

Heidi Handorf: Ja, es war eine lange Produktionszeit. Wir haben im Hunsrück eineinhalb Jahre gearbeitet von Mai 1981 bis November 1982 und dann noch ein Jahr in München.
Und es war eine sehr gute Zusammenarbeit mit Edgar Reitz, wir haben gekürzt, verdichtet, ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass wir im Schnitt viel umgestellt haben. Das Drehbuch baute in seinen Szenenfolgen so schlüssig aufeinander auf, dass es keine Notwendigkeit gab, große Veränderungen vorzunehmen. Nur eine wichtige Sache ist erst im Montageprozess entstanden: Wir drehten in München die Szenen für den Beginn jeder Folge nach, in der die Figur Glasisch Fotos betrachtet und aus dem Off erzählt, was bisher geschah oder uns eine Vorahnung gibt, was in der aktuellen Folge auf den Zuschauer wartet.tl_files/filmplus/2019/Interviews/Heidi vorne links am Set von HEIMAT 1981.jpg

Eine der augenscheinlichsten gestalterischen Besonderheiten von “Heimat” ist der Wechsel zwischen Schwarz-Weiß-Bildern und Farbaufnahmen. Wurde das in der Postproduktion gemacht?

Heidi Handorf: Nein, das war von dem großartigen Kameramann Gernot Roll tatsächlich so gedreht worden, wie man es in den fertigen Filmen sieht. Es wurde auf 35mm mit Farbfilm und Schwarz-Weiß-Film gedreht. Gernot gehört zu den Kameraleuten, die immer an den Schnitt denken, wenn sie drehen. In den 1970ern gab es viele andere Kameramänner im Autorenfilm, deren Arbeit, naja, etwas ungelenk war. Es wurde oft nicht genügend aufgelöst und Dinge greifen dann häufig in der Montage nicht ineinander. Ich glaube, diese Probleme sieht man manchen Filmen des deutschen Autorenkinos weiterhin an.

Sehr viele Szenen von “Heimat” wurden ja on-location in Hunsrück-Dörfern gedreht, teilweise auch mit Darstellern aus der örtlichen Bevölkerung. Es wird sehr viel Dialekt gesprochen. Musste dafür auch nachsynchronisiert werden?

Heidi Handorf: Nein, es gibt tatsächlich in den 15,5 Stunden “Heimat” nicht einen einzigen Synchronsatz und auch keinen einzigen Synchronton. Jeden Schritt habe ich, wenn es nötig war, nachgeschnitten und nie auf Geräuschemacher zurückgegriffen. Wir hatten mit Gerhard Birkholz einen absolut fantastischen Tonmeister. Bei größeren Szenen hatte er einen Assistenten, aber ansonsten hat er alles allein aufgenommen. Bei jedem meiner Filme habe ich schnell den Kontakt zum Tonmeister gesucht und meine Wünsche für Atmos, Nachsprecher und Nurtöne genannt. Manche sind gerne darauf eingegangen, andere nicht. Das Wichtigste für mich war immer die Verständlichkeit der Schauspieler. Ich mochte es nicht, wenn der Hintergrund zu laut war. Bei “Heimat” war es einfach ideal!

Du hast seit Mitte der 1990er fast ausschließlich Filme fürs Fernsehen gemacht. Gab es dort für dich im Schneideraum nicht einen größeren Druck, mehr Material in kürzerer Zeit zu schneiden?

Heidi Handorf: Naja, es drehte sich alles um die Wochen, die für den Schnitt kalkuliert und ausgehandelt wurden. Arbeitete man mit einem Regisseur, der eine längere Schnittzeit durchsetzen konnte, war es großartig. Oliver Storz wollte während des Feinschnitts nicht jeden Tag kommen, also verlängerte sich die Zeit des Schneidens. Es war kein Problem für die Produktion. Ich habe ja auch ein paar Folgen einiger Serien geschnitten, da war alles anders. Grundsätzlich wurde mit zwei Kameras gedreht und es gab Material ohne Ende, natürlich nicht ausgemustert. Aber ich wollte mir beweisen, dass ich das noch schaffe. Allerdings arbeitete ich damals auch 10 bis 12 Stunden täglich. Was ich allerdings immer fern von mir halten konnte, war, die Wochenenden im Schneideraum zu verbringen. Und überhaupt: Ich kann wirklich nicht sagen, dass mich die Arbeit im Schneideraum jemals übermäßig gestresst oder angestrengt hätte. Nein, ich habe es genossen. Es war einfach der richtige Beruf für mich.

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Interview: Werner Busch